Und zu allen Zeiten gibt es unkorrekte Menschen.

Vor und während des 2. Weltkriegs haben verschiedene jüdische Familien in Liechtenstein Zuflucht gesucht. Und Gott sei Dank auch gefunden. Viele dieser Familien sind, vor allem der Gemeinde Vaduz, bis heute in zweiter, dritter und vierter Generation freundschaftlich und in Dankbarkeit verbunden.
Als Heranwachsender habe ich allerdings verschiedentlich Gerüchte gehört, wonach sich – die bei uns mehrheitlich recht begüterten – jüdischen Familien nicht alle gleichermassen korrekt verhalten haben sollen. Ob das stimmt, kann ich selber nicht sagen, als 1963 geborener bin ich deutlich nach diesen Zeiten geboren.
Ich habe mich dann in der Verwandtschaft erkundigt und habe auch dort (in den siebziger Jahren) Gerüchte bzw. Geschichten gehört, doch kaum etwas wirklich konkretes. Bis ich meine Patentante, die Schwester meines Vaters, gefragt habe. Und da bekam ich eines der Beispiele, von denen ich mehrfach gehört habe, aus eigenem Erleben zu hören.
Meine Tante, geboren 1933, war damals 17 Jahre alt und durfte das erste mal auf einen Sommerball in Vaduz. Nur wollte sie natürlich gut gekleidet gehen. Die Frage war nur, woher ein Kleid nehmen – und auch noch bezahlen können. Zum Glück war meine Gotta zu diesem Zeitpunkt als Hausmädchen in einem jüdischen Haushalt beschäftigt, und deren gleichaltrige Tochter verfügte über einen grossen Fundus an wunderschönen Kleidern, teilweise direkt aus Paris. Und so fasste sich meine Gotta ein Herz und fragte nach einem schon etwas älteren, abgetrageneren Kleid, das sie selbstverständlich abarbeiten würde. Und tatsächlich, die junge Dame des Hauses ging darauf ein und versprach ein leicht älteres, aber noch immer tolles Kleid abzugeben. Dafür müsse meine Gotta aber zusätzlich an vier Wocheneden hintereinander (es gab viele Gäste) da sein und auch die Bewirtung der Gäste übernehmen. Selbstverständlich ohne Bezahlung, dafür gabs schliesslich das Kleid.
Nach dem vierten
Wochenende freute sich meine Tante über alle Massen auf das nun zu übergebende Kleid. Und tatsächlich: Sie bekam es, in einer grossen
Tasche. Als meine Tante hineinsah, war da drin das
Kleid: In viele Streifen zerschnitten und zerknüllt. Dazu der
Kommentar der Tochter des Hauses: «Du glaubst aber nicht, dass so
ein Bauerntrampel im gleichen Kleid wie ich auf einen Ball geht ? Das
wär ja noch schöner !».
Eine Intervention meiner enttäuschen Tante beim Vater des Hauses war zumindest insofern erfolgreich, als dass meine Gotta die mehr geleisteten Stunden der Wochenenden pauschal abgegolten erhalten hat. Ohne Zuschläge fürs Wochenende. Ausserdem verbunden mit dem Hinweis, dass solcherlei Kleidung für arme Leute wohl ohnehin nicht geeignet sei. Dazu brauche es einen gewissen Stil, den man in solcherlei einfachen Verhältnissen wie der ihren wohl zweifellos vergebens suche.
Solche Anekdoten aus jüdischen Haushalten sind in den 1970er Jahren noch durchs Dorf gegeistert.
Und die eine oder andere war wohl tatsächlich auch wahr.¨
(Pixabay, n.Reg.lizenzfrei)